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Oliver Flössel: „First Kiss“, 9.9.-15.10.2011

Spiel, Wechselspiel, Gedankenspiel: Zwischen Erlebtem und Vergessenem, Erträumtem und Verschüttetem, Realem und Fantastischem. Die Spuren sind auf der Leinwand zu finden: schwarze Konturen fangen ein, halten fest, ziehen Grenzen, geben und nehmen. Dem steht gegenüber, als Katapult gedanklichen Abhebens: weite Räume, sich öffnende Universen des geistig Unbegrenztem. Kaum abschätzbar, was erlebt, was erdacht.

Er trug auf, der Künstler, viel und vielschichtig auf die Leinwand. Mit allem, was Farbe hergibt: Öl, Spray, Buntstift, Ölstift, Marker. Übereinander, Gegeneinander, Ineinander.

Zuerst nur grundierte Flächen, in hellen Farben, dann erste Umrandungen, Einfangen der Farbe mit Form. In schwarz legen sich bald verzerrte Formen geometrischen Ursprungs darüber, oder Buchstaben, Symbolisches. Ikonografisches schafft Verbindungen zwischen den Subjekten. Immer feiner wird nun aufgeteilt, zersplittert, detailliert, von Groß zu Klein, von der Fläche zur Form.

Das Arbeiten nimmt an Fahrt auf, der Prozess lädt sich auf, wird expressiv, vieles zerspringt, fliegt auseinander – Supernova! Zerstörung des gerade Erzeugten. Ein großer Scherbenhaufen, nicht das Ende, nur ein Zwischenstadium, der notwendige Ausgangspunkt für den nächsten Schritt seiner Arbeitsweise: Nach dem Erschaffen folgt nun das Wegnehmen. Jetzt wird wieder Farbe darüber gelegt, das Entstandene wieder übermalt, oft in weiß, ein gebrauchtes Weiß – hat wohl schon ein paar Jahre an der Wand verbracht, möchte man meinen. Der Künstler entscheidet, was bleibt, was wieder verschwindet.

Aber was gewesen, lässt sich nicht auslöschen. Es scheint durch, lässt sich noch erahnen. Aber doch Lichtjahre ins All gefallen. Gedachtes, Gewesenes, Geliebtes – verschüttet aber nicht ausgelöscht. Nur „ver-strichen“.

So präsentiert sich am Ende ein Werk, das durchlebt hat: gestreichelt , attackiert, verwischt, wiedergeboren. Relikte menschlicher Gefühlsspannungen. First Kiss. Ein Atelier-Protokoll der Launen, eine Gefühlsschablone über die Zeit, Seelenkanon, materialisierter Erinnerungsorkan.

Berthold Pott, September 2011